Was oder wer ist es, das in uns flucht, raunzt, schubst, Scheibenkleister (oder die Kurzform davon) brüllt und drängelt? Warum wechseln wir im Stadtverkehr auch dann ständig die Spur, wenn wir es nicht eilig haben? Warum die Lifttür nicht nochmal öffnen, wenn jemand angeeilt kommt? Von dem lichthupengeilen Zeitgenossen, der schon beinahe in meinem Kofferraum sitzt, ganz abgesehen.

Arthur Schopenhauer verglich das menschliche Zusammensein mit einer Gesellschaft von Stachelschweinen, die sich in kalten Wintertagen zusammendrängen, um nicht zu erfrieren. Je näher sie einander kommen, desto mehr spüren sie die Stacheln der andern, also rücken sie wieder voneinander ab. Das machen sie so lange, «bis sie eine mässige Entfernung voneinander herausgefunden haben, in der sie es am besten aushalten können». Die mittlere Entfernung, bei der ein Beisammensein bestehen könne, sei die Höflichkeit und feine Sitte. Damit werde zwar das Bedürfnis der gegenseitigen Erwärmung nur unvollkommen befriedigt, dafür aber der Stich der Stacheln nicht empfunden.

Schopenhauers Definition von Höflichkeit ist demnach eine vergiftete. Überzuckert sie doch nur die latente gegenseitige Abneigung der Menschen, ermöglicht ihnen aber, es «trotz ihren vielen widerwärtigen Eigenschaften und unerträglichen Fehlern» miteinander auszuhalten. Nun war Arthur Schopenhauer weder ein besonders freundlicher noch ein zuvorkommender Mensch. Der Gedanke, dass Stachelschweine ihre Stacheln anlegen könnten, um gegenseitige Nähe erträglich zu machen, lag ihm fern. Für ihn stand fest, dass es die Bosheit ist, die den Menschen vom Tier unterscheidet, nicht die Höflichkeit.

Verfall der Sitte?

Höflichkeit war eine adelige Tugend, die vom Bürgertum übernommen wurde. Sie umfasste das Ideal, dass alle Menschen gleich an Würde seien. Heute, wo alle gleich sind, wird das, so scheint mir, gerne vernachlässigt.

Warnung: Vielleicht wird dir das eine oder andere was folgt, nicht wirklich gefallen. Oder es regt dich zum Nachdenken an. Oder du stimmst mit mir überein oder du bist anderer Meinung. In jedem Fall würde ich mich sehr freuen, wenn du einen Kommentar hinterlässt (auf meinem Blog möglich).

Ich frage mich, ob sich der Verfall unserer Sitten demnach – im Kontext liberaler Freizügigkeit und narzisstischer Verengungen – vor allem darin zeigt, dass die scheinbar überholten Formen der Höflichkeit und Anteilnahme (meiner Generation?) stückweise verschwinden, ohne dass neue Verhaltensweisen in Sicht wären. Finden wir nicht allzu oft Berichte über Menschen, die auf vielbelebten Strassen zusammenbrechen, angegriffen und attackiert werden, ohne dass die Vorübergehenden davon Notiz nehmen und etwas unternehmen?

Im Umgang mit anderen lieber Kante als Kant? Ist Höflichkeit nicht eine Wertschätzung, die man dem Gegenüber zukommen lässt? Oder: Wird diese vom Ego überlagert, um zu zeigen wer man ist? Oder: Ist sie eigentlich ein Zeichen der eigenen Wertschätzung?

Befinden wir uns an der Schwelle der Höflichkeitsetikette, indem wir uns abgrenzen? Wo öffentliches Füssehochlegen, Herumbrüllen, auf die Strasse rotzen oder Nasebohren persönliche Bedürfnisse sind, denen man ungehemmt nachgibt?

Versteckt sich in diesen Verhalten eine Kompensation nach unerfülltem «Ich darf das» – oder ist es neurotisch?

Umgangsformen

«Über den Umgang mit Menschen» ist der Titel des Buches (Reclam, 477 Seiten) von Adolph Freiherr Knigge, das 1796 erstmalig erschien. Manchmal wünsche ich, dass es Pflichtlektüre sein sollte. Mit Umgangsformen kannst du punkten, vielleicht heute mehr, als je zuvor – und wenn sich Kompetenz mit der Umgangsform paart, dann öffnen sich Türen, vielleicht, weil es inzwischen so selten geworden ist, vor allem die Höflichkeit. Ein paar Gedanken:

Netiquette

Ja klar, darüber findest du nichts in Knigges Werk. Zu seiner Zeit galt noch der Gedanke seines Zeitgenossen, Wolfgang von Goethe, als wichtig: «Ich schreibe dir einen langen Brief, weil ich für einen kurzen keine Zeit habe». Vielleicht nichts gegen AKLA (Alles klar) und GUK (Gruss und Kuss) in einer SMS oder bei WhatsApp. Aber was ist mit MfG, LG und Konsorten? Heisst das nicht, dass der Sender dir mitteilen will, «Für dich nehme ich mir nicht mal die Zeit, die Grussformel auszuschreiben», auch wenn das nicht stimmen mag? Was meinst Du?

Illustriert es einen generellen Wandel der schriftlichen Umgangsformen, der da lautet: Höflichkeit und Etikette sind keine Selbstverständlichkeiten mehr, sie sind schon fast passé? Und dies nicht nur im privaten, sondern auch im beruflichen Kontext. E-Mails, die vor rund zwanzig Jahren das Schreiben von Briefen und mittlerweile auch das Telefonieren weitgehend ersetzt haben, werden ohne Anrede immer üblicher, statt dem «Mit freundlichen Grüssen» genügen «Gruss» oder eben die Abkürzungen «Mfg» und «Lg.

Was empfindest du, wenn die E-Mail weder Anrede noch Signatur enthält, also nur aus einem Satz oder Hinweis besteht? Drückt dies Wertschätzung für den Empfänger aus?

Kennst du nicht auch jene E-Mails, die nach dem 4. «Reply» im Betreff einen Text haben, der mit dem Inhalt der E-Mail nichts mehr zu tun hat? Vielleicht, aber immer noch besser, als E-Mails ohne irgendetwas im Betreff zu erhalten.

Pünktlichkeit

Das kennst du. Das Meeting ist für 15.00 Uhr geplant. 12 Teilnehmer sind eingeladen. 3 Minuten vorher ist fast jeder da. Und dann gibt es die ausserordentlich pünktlich Unpünktlichen. Es sind immer die gleichen. «Lass` uns noch zwei Minuten warten, bis Schmidt und Kunz da sind». Und Müller, der kommt erst um 15 nach. Ich frage mich, ob Schmidt, Kunz oder Müller auch zum Flieger in den Urlaub zu spät kommen?

Ständige Unpünktlichkeit mag ganz andere Ursachen haben. Wer regelmässig zu spät kommt, ist nicht unpünktlich. Es braucht gutes Zeitmanagement, um zu jedem Meeting pünktlich zu spät zu sein. Meiner Erfahrung nach steckt dahinter ein Autonomiekonflikt. Der zu spät Kommende will durch sein Verhalten seine Unabhängigkeit und Wichtigkeit beweisen, indem er die getroffene Vereinbarung unterläuft. Er rebelliert dagegen, «verplant» zu werden, obwohl er der Terminvereinbarung selbst zugestimmt hat – und ist sich dessen meist gar nicht bewusst.

Pünktlichkeit ist ein Zeichen der Wertschätzung und der Höflichkeit. Niemand will gerne warten. Es gibt schon Gründe für Unpünktlichkeit: Miserable Planung, fehlende Selbstbestimmtheit, niedriges Selbstwertgefühl und die Schuld auf andere schieben.

Respekt

Ist es nicht Höflichkeit, dem anderen seine volle Aufmerksamkeit zu schenken, sich wirklich für das Gegenüber zu interessieren? Knigge: Wer unteilnehmend, ohne Sinn für Freundschaft, Wohlwollen oder Liebe, nur sich selber lebt, der bleibt verlassen, wenn er sich nach fremdem Beistand sehnt.

Ein respektvoller Umgang in Gesprächen zeigt sich unter anderem beim Zuhören.

Gut zuhören
Aussprechen lassen
Pausen gönnen
Auf Gestik und Mimik achten
Sich in das Gegenüber hineinversetzen

Für ein respektvolles Verhalten braucht es vor allem auch den Respekt sich selbst gegenüber. Selbstbezogenheit und Egozentrik sind dabei nicht förderlich:

Wer aufmerksam und freundlich sich selbst gegenüber ist, kann das auch anderen gegenüber sein.

Wer seine eigenen Bedürfnisse kennt und zu ihnen steht, erkennt, dass auch andere eigene Bedürfnisse haben, die es zu respektieren gilt.

Wer sich selbst in allen Facetten annimmt, wird auch bei anderen Menschen akzeptieren, dass sie anders sind und dass sie ihre Stärken und Schwächen haben.

Respektvoller Umgang und Empathie hängen eng zusammen

Wer sich selbst respektiert und genügend Selbstvertrauen mitbringt, der ist stark und gelassen genug, sich auf den anderen und seine Sichtweise einzulassen. Empathie ist eng mit Respekt beziehungsweise einem respektvollen Umgang verbunden. Denn Empathie ist die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen und das Bestreben, sie zu verstehen. Ich rate, sich selbst zu fragen:

Was ist die Sichtweise des Gegenübers?
Was hält er für richtig oder falsch?
Was will er erreichen?
Welche Gefühle beeinflussen ihn vermutlich?
Was befürchtet er?
Was braucht er?

Diese Fragen können ergänzt werden durch die Perspektive eines unbeteiligten Dritten. Hier lautet die Kernfrage: Was würde eine andere Person sehen, wenn sie mich und mein Gegenüber und unseren gemeinsamen Umgang beobachtet?

Fazit

Respektloses Verhalten stellt nicht nur denjenigen ins Abseits, der es an den Tag legt. Es ist zudem ein Faktor, der das Unglücklichsein fördert.

Sonya Lyuobomirsky beschreibt in ihrem Buch «The How of Happiness: A new Approach to getting the life you want” 12 Strategien, wissenschaftlich untermauert, die zu mehr Glücklichsein führen. Es sind triviale Strategien: Dankbar sein (3 Strategien), Soziales Umfeld (2), Umgang mit Stress (2), im Hier und Jetzt leben (2), Ziele für sich definieren und sich verpflichten (1) und Körper und Geist pflegen (2).

Im sozialen Umfeld geht es dabei um Freundlichkeit und Respekt. Das drückt sie aus mit «random acts of kindness», also vielleicht «tägliche Handlungen der Freundlichkeit».

Das müssen keine übertriebenen oder zeitintensiven Handlungen sein, aber sie sollten etwas sein, das einer anderen Person wirklich hilft oder Auswirkungen hat. Hilf deinem Kollegen zum Beispiel bei etwas, gib ein paar Franken/Euro oder etwas Zeit für eine Sache, an die du glaubst, sag etwas Nettes zu einem Fremden, schreibe eine Dankesnotiz oder spende Blut.

Die kleinste Form der Liebe ist Respekt.

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