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Ein schlechter Angler werden?

Was haben ein Blechschaden, das Oktoberfest, enge Jeans, der Gotthard und die Schwiegereltern im Nebenhaus wohnend gemeinsam?

Das sind alles Dinge, die Schmerz bereiten, unangenehm und stressig sein können, weil da zu wenig Raum ist.

Wenn jede Sekunde des Tages vollgepfropft ist, sowohl in der Innenwelt (nicht enden wollendes Denken und entsprechende automatische Verarbeitung) als auch in der Aussenwelt (grenzenlose Aufgaben, unendliche To-Do-Listen etc.), dann entsteht eines von zwei Dingen:

Im besten Fall fühlt man sich aktiv und busy, doch gleichzeitig auch ausgelaugt, unerfüllt und frustriert, dass man so selten die Energie findet, das zu kreieren, was man wirklich möchte, ohne durch Druck und Stress gefordert zu werden. Die Dinge zu erledigen, fühlt sich an wie eine Belastung, wie eine Übung, wie ein Hindernislauf, den es zu absolvieren gilt und nicht wie etwas, was man gerne und mit Freude macht.

Im schlechtesten Fall lebt man gestresst, liebäugelt mit dem Burn-out, braucht dringend den Urlaub, ist überall gleichzeitig und doch nirgendwo: Im konstanten Zustand, auf alle Forderungen und Erwartungen, die einem von der Welt auferlegt werden, zu reagieren. Man fühlt sich nicht wirklich erfüllt, macht sich Sorgen – lässt man mitten im Spiel den Ball fallen, sind andere enttäuscht, man ist selbst enttäuscht und fragt sich, ob das denn nie aufhört.

Um einem solchen Schlamassel aus dem Weg zu gehen, gilt es, Raum und Zeit zu schaffen. Laut Einstein ist Raum und Zeit zwar gekrümmt, so wie manche unsere Gedanken, aber das hilft uns hier nicht weiter. Vielleicht lieber eine sehr aktive „zweckvolle Ziellosigkeit“?

Beim „Sich-Raum-schaffen“ entsteht Magie: die Qualität unseres Denkens und unser Geist erholen sich in diesem Raum und werden wie neu geboren. Wenn wir überwältigt sind, im Sumpf beinahe ersticken, uns im Spiralsturz befinden, gestresst sind, dann denken wir: “Ok, das wird jetzt alles erledigt und dann ist es erstmal vorbei und wird sicher einfacher.“ Bitte nicht falsch verstehen, natürlich gibt es Situationen, in denen es nichts Besseres gibt, als die Hemdsärmel hochzukrempeln und hyperaktiv zu werden.

Aber wenn sich alles sehr schwer anfühlt, wenn die Gedanken in Traurigkeit, Ängstlichkeit, Hoffnungslosigkeit gefangen sind, wenn man sich ausgelaugt und müde fühlt, dann ist es nicht an der Zeit, um Bäume auszureissen – das sind Zeichen, dass man (Frei-) Raum braucht. Loslassen, um sich neu engagieren zu können, vielleicht mit einem anderen Blickwinkel. Um ein Feuer zu löschen benutzt man auch kein Feuer, sondern so etwas wie das Gegenteil – Wasser. Ist man übergestresst, dann also das Gegenteil: Raum und Ruhe – das führt aus dem Chaos.

„Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen,
durch die sie entstanden sind.“

Albert Einstein

Und doch, gerade wenn wir glauben, um im Leben weiterzukommen, sei es notwendig, mehr und mehr auf den Teller zu laden (wie beim Buffet, wenn man sehr hungrig ist) oder wir einen Weg versuchen zu finden, um noch effizienter zu werden, um alles zu erledigen, dann folgen wir Alberts Ratschlag nicht.

Was wir hingegen tun können, ist, „to slow down to speed up“ (Eile mit Weile). Wir lernen damit zu erkennen, dass das Sich-überwältig-fühlen ein Ergebnis unserer Wahl ist, wozu wir Ja und wozu wir Nein sagen.

Der Weg dorthin – als Geschäftsführer seiner selbst – ist, die Entscheidung, das „Ja“ nicht zu delegieren. Nehmen wir einen Chirurgen, der den Hirntumor entfernen soll, als Beispiel: Er würde nie erlauben, dass es im Operationssaal zu eng wird und kein Spielraum besteht. Er würde nach der durchzechten Geburtstagsfeier nicht am Morgen um 6.00 Uhr das Skalpell in die Hand nehmen (so will ich hoffen, sollte ich auf dem Tisch liegen). Genauso wenig, wie er nach dem Non-Stopp-Flug von Australien mit Zwischenstopp in Dubai, direkt vom Flughafen in den OP eilen würde. Denn er weiss sehr wohl, dass in der Ruhe die Kraft liegt und jedes Ja automatisch ein Nein für etwas anderes bedeutet und umgekehrt.

Die Kraft, die uns weiter bringt, entsteht, wenn man sich (Spiel-) Raum und Zeit nimmt, die Batterien wieder aufzuladen, seine Gedanken zu sammeln und über sich zu reflektieren. Warum tue ich, was ich tue? Welche meiner Grundbedürfnisse, welche Gefühle versuche ich da genau zu befriedigen? Wovor laufe ich durch (sinnlose) Aktivität davon? Sich bewusst konzentrieren und nichts tun, ohne sich schuldig zu fühlen oder sich zu bewerten. Man reflektiert über sich und das führt zu Kreativität, anstatt hilflos im Hamsterrad zu reagieren. Da kann ein Coach gut zur Seite stehen. Die Glocke des Pavlov’schen Hundes heisst heute unter anderem Klingelton des Telefons, wenn es klingelt oder vibriert, schauen wir automatisch nach. Wir sind zu sehr konditioniert, es allen recht zu machen.

Das bedeutet jetzt nicht, dass Sie morgen für sechs Monate nach Indien in den Ashram verduften oder dringend die 20-Meter-Yacht für zwei Wochen chartern müssen. Es mag sein, dass ein 30-Minuten-Spaziergang, ohne iPhone und Musik, den gleichen Zweck erfüllt. Die Faszination, wie bei Kindern beobachtbar, das Wunder der Bäume neu erkennen. Wir können keine Strassenlaternen schaffen, die hunderte von Jahren, wie die Bäume, an sich vorbeiziehen lassen und jedem Wind und Wetter trotzen. Nicht mal eine LED Birne hält so lange. Sich ins Kaffee setzen und nicht gleich die Zeitung oder Smartphone hervorholen oder die Schaumkrone des Cappuccinos auf Facebook posten, sondern nur den Kaffee geniessen und seine Umgebung und sich beobachten. Das Beispiel, dass mir sofort in den Kopf fliegt, ist, wie die meisten Passagiere im Flugzeug sofort das Bordjournal hervornehmen oder die Zeitung beim Eingang schnappen, als hätten sie wochenlang nichts gelesen. Ist wahrscheinlich auch verwandt mit dem Tomatensaft-Konsum im Flieger…

In Musse dasitzen, an einem ruhigen Ort, ohne gestört zu werden, den Gedanken ihren Lauf lassen, im Moment einfach zu sein, selbst dann, wenn die Gedanken im Kopf im Sauseschritt daher kommen.

Wir alle kennen Thomas Edison, einer der grössten Erfinder des letzten Jahrhunderts – ich weiss aber nicht, ob Sie wissen, dass er ein miserabler Angler war. Jahrelang hatte er erfolglos gefischt und eines Tages fragte ihn ein Freund: „Warum angelst Du denn und gibst nicht auf? Du hast bis jetzt noch nie einen Fisch an Land gezogen!“

Seine Antwort: „Weisst du, wenn man ohne Köder angelt, dann belästigen dich weder die Fische noch die Menschen um dich herum – und mir gibt es die Zeit, nachzudenken und zu reflektieren“.

Ich stosse auf miserable Angler an.

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