Wenn wir glauben, dass wir über das, was wir tun, volle Kontrolle haben, dann nehmen wir im Prinzip an, dass wir uns für unseren aktuellen Status im Hirn bewusst entschieden hätten. Das möchten wir gerne so haben. Aber, wenn wir darüber nachdenken, dann finden wir heraus, dass unser Status vielmehr ein Ergebnis dessen ist, wie die Informationen in unser Gehirn gelangen. Das heisst also: abhängig vom Umfeld und Kontext ist und all dies verändert unsere Emotionen – und die laufen überwiegend unbewusst ab.

Vieles in unserem Leben ist ungewiss. Dies ist der zweite Teil, die Fortsetzung zum Artikel «Risiko, Unsicherheit oder Ungewissheit?»  und was folgt sind Betrachtungsweisen, die ich von Gunther Schmidt[1] übernommen habe.

Zielentwürfe und Lösungsversuche

Letztendlich ist es mit dem Ungewissen wie mit jedem Problem: Wir suchen eine Strategie oder Handlungsabfolge, um vom unerwünschten «Ist» zum angestrebten «Soll» zu kommen. Ein Problemerlebnis gibt es nur durch dieses Spannungsverhältnis zwischen «Ist» und «Soll». Ohne angestrebtes Ziel kann es kein Problem geben.

Durch das Zusammenfügen von Sinneselementen zu Netzwerken schaffen Menschen ihre erlebten Probleme selbst (Schmidt, 2004): Während eines Problemerlebens «feuern» die Netzwerke, bei denen man eine Diskrepanz zwischen dem «Ist» und einem gewünschten «Soll» wahrnimmt. Je nachdem, ob man mit mehr oder weniger Kontakt zu seinen Kompetenzpotenzialen über ein Problem oder einen Zielentwurf (das gewünschte «Soll») redet, gestaltet man (unwillkürlich und unbewusst) sein Erleben.

Somit ist also das Erleben von Ungewissheit eine autonome Konstruktion in unserem Hirn. Und das «Soll», das Ziel, wäre dann eben «keine Ungewissheit» zu haben – und dies ist leider nicht möglich, da wir die Zukunft nicht kennen. Aufbau einer Steuerposition und polynesisches Segeln, als Metapher, mögen bei Ungewissheit helfen:

Aufbau einer Steuerposition

In komplexen und widersprüchlichen Situationen mit so vielen Anforderungen, dass niemand diesen ganz gerecht werden könnte, ist es hilfreich, elastisch aus einer «tänzerischen Balance-Haltung» heraus zu handeln, anstatt sich nur einer Aufgabe zu widmen.

Gunther Schmidt schlägt dafür vor, sich in der inneren Vorstellung einen Punkt auszuwählen, von dem aus man jeweils zu allen Anforderungen und allen relevanten Einflussfaktoren die optimale Distanz hat. Er nennt dies den «optimalen Squash-Punkt»: einen Punkt im Spielfeld, von dem aus man alle denkbaren Positionen schnell und effektiv erreichen kann – jedoch nur dann, wenn man nach jeder Aktion sofort wieder an ihn zurückgeht und nicht an dem Punkt verweilt, den man gerade noch für eine Aktion aufgesucht hatte. (Beim Squash-Spielen geht man immer zurück in die Mitte des Spielfeldes.)

Mit systematischer Imagination kann man eine entsprechende Haltung auch im unwillkürlichen Reagieren wie selbstverständlich verfügbar machen. Dazu kann man sich zu den bisher aktiven inneren Anteilen einen weiteren dazu imaginieren.

Dieser erlaubt, dass man nicht immer allem gerecht werden muss, sondern stattdessen für die tänzerische Balance-Kompetenz gewürdigt wird. Das schafft häufig grosse Erleichterung und intensive Lust und Handlungsfreude.

Polynesisches Segeln

Hätte sich Kolumbus zielfixiert verhalten, wäre er unter heutigen Bedingungen vermutlich mit starken Selbstwertproblemen und der Selbstdefinition, ein Versager zu sein, in Therapie gegangen – denn immerhin wollte er ja nach Indien und kam ganz woanders an. Um unter Kontextbedingungen von Ergebnisunsicherheit und vielen Restriktionen in eine kraftvolle Entwicklung der eigenen Gestaltungskompetenz zu kommen, braucht man Ziele, für die man tatsächlich selbst etwas wirksam tun kann. Für diese Kontextbedingungen hat Gunther Schmidt aus diversen Anregungen (Lewis, 1994) die Metapher vom «polynesischen Segeln» entwickelt:

Metapher:

Von den Polynesiern wird gesagt, dass sie die damals kaum lösbar erscheinende Aufgabe, über weite Strecken im Pazifik doch immer wieder Landziele zu erreichen, mit Hilfe bestimmter Strategien bewältigten. Sie wählten eine Richtung und taten so, als ob in jener Richtung ihr Ziel liegen würde.

Dabei war ihnen klar, dass sie das nicht exakt wissen konnten. Deshalb verpflichteten sie sich nicht dazu, genau in die angepeilte Richtung zu fahren, sondern schauten ständig in alle Richtungen und änderten sofort ihre Zielvorgabe, sobald sie interessante Hinweise sahen. Die Funktion des Ziels war also keineswegs, es unbedingt erreichen zu müssen, sondern überhaupt einmal in Bewegung zu kommen und in See zu stechen. Hätten sie sich einer vorgegebenen Zielvorstellung gegenüber «versklavt», wäre das gefährlich geworden.

Sie hätten nicht mehr elastisch auf überraschende Neuinformationen auf ihrem Weg (Feedback) reagieren können. Ihre flexiblen Reaktionen werteten sie aber auch nicht als Versagen, sondern als hohe Kompetenz.

Während der ganzen Fahrten nutzten die Polynesier Wind, Sterne, Wellengang, Vogelflug, Fischverhalten, Wolkenformationen und andere Kontextfaktoren zur Navigation. Wichtig war dabei aber immer, dass sie sich nicht nur «nach vorne» orientierten, sondern auch «nach hinten» an ihrem Ausgangspunkt.

So waren sie immer in der Lage, wieder umzukehren und zu ihrer logistischen Quelle zurückzufinden, wenn die Reise zu heikel für sie wurde. Erst dies trug zu ihrer kraftvollen inneren Zentrierung bei, die man für erfolgreiches Navigieren in niemals vollständig planbaren Kontexten braucht.

Metaphern und Geschichten wie diese erweisen sich oft als gute Einladungshilfen, um neue Perspektiven gewinnen zu können. Die Funktion eines Zieles ist es, überhaupt einmal in Bewegung zu kommen.

Wir können also probieren, die Ungewissheit als eine Einladung zu sehen, dass Ungewissheit die Voraussetzung für «Abenteuer Leben» ist. Und lieben wir nicht Abenteuer, vielleicht mit dem Gedanken des brasilianischen Schriftstellers Fernando Sabino?

Am Ende wird alles gut. Und wenn es nicht gut wird, ist es noch nicht das Ende.

Fernando Sabino

[1] Faschingbauer, Michael. Effectuation (Systemisches Management), siehe 5.9 Beratungs- und Coachingpraxis

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