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Welches Objektiv wählen Sie?

Welches Objektiv wählen Sie?

 

Wenn wir Dinge und Verhalten beobachten, so sind wir, zumindest ab und zu, fokussiert, aber sind wir so objektiv, wie das Objektiv einer Kamera? Hoffentlich nicht. Stellen Sie sich vor, nach einer zweistündigen Bergwanderung, bei herrlichem Herbstwetter, keine Wolke am Himmel, die Luft klar und der leichte Windzug fühlt sich angenehm auf der Gesichtshaut an, sind Sie am Gipfel angekommen. Die Aussicht bei dieser leichten Föhnlage ist monumental. Die schon oder immer schneebedeckten Gipfel in der Ferne scheinen zum Greifen nahe – das muss ich festhalten. Sie nehmen egal ob Spiegelreflexkamera, iPhone oder sonstiges Gerät und verewigen den Augenblick digital. Zuhause dann, den anderen mit Stolz die Bilder zeigend, erwirken die Aufnahmen nur ein mildes Lächeln, denn die Monumentalität, die Sie vor ein paar Stunden hautnah erlebt haben, kann das Bild nicht einmal zu einem Zehntel wiedergeben.

Auf dem Gipfel waren wir aufmerksam und achtsam mit uns. Aber, was heisst Achtsamkeit nun denn genau? Wir können uns alle etwas darunter vorstellen. Im umgangssprachlichen Gebrauch beinhaltet Achtsamkeit häufig den Sinngehalt „Beachtung schenken“ oder „sich um etwas kümmern“: „Achte auf deine Manieren“ oder „achte auf deine Sprache“, was bedeuted, dass man sich auf eine kulturell vorgeschriebene Art und Weise zu verhalten hat.

Die in der Forschungsliteratur am häufigsten zitierte Definition stammt von Kabat-Zinn. Demnach ist Achtsamkeit eine Form der Aufmerksamkeit die

1. absichtsvoll ist,

2. sich auf den gegenwärtigen Moment bezieht (statt auf Vergangenheit und Zukunft), und

3. nicht wertend ist.

Mag erstens und zweitens noch einfach sein, bei nicht wertend, scheiden sich die Geister. Mir persönlich wurde Achtsamkeit nicht in die Wiege gelegt und in meiner Arbeit, mit mir (zuerst) und meinen Klienten, hat sich in mir zusätzlich das Wort Präsenz manifestiert. Nicht im Sinne von Erscheinungsbild, Bühnenpräsenz oder Vorhandensein, sondern in der Bedeutung von im Leben „Sein“.

Mir bereitet es Freude, über Präsenz zu reflektieren. Es ist spannend, zu untersuchen, wie Präsenz unsere Beziehungen und unseren Geist beeinflusst. Präsenz ist für mich ein Modell um „nicht wertend Sein“ deutlich zu vereinfachen. Dies ist eine Hypothese, die Sie annehmen können oder nicht. Sind Sie jedoch präsent, dann lesen Sie weiter, weil Sie bewusst nicht bewertet haben und sich auf die unendliche Vielfalt, was ich als nächstes schreiben könnte, einlassen. Mit anderen Worten, Sie haben sich für die Unsicherheit entschieden, denn Sie wissen nicht, was als nächstes kommt.

Im Leben jedoch, da wollen wir für das Nächste gewappnet sein, deshalb greifen wir tief in den Fundus unserer Erfahrungen um, da wir nach Sicherheit streben, uns richtig zu verhalten. Unsicherheit, also nicht wissen was als nächstes passiert, mögen wir nicht. Deshalb meinen  wir oft zu wissen, schon bevor der andere seinen Satz zu Ende gesprochen hat, was er meint.

Natürlich täuscht uns unsere Lebenserfahrung selten, aber vielleicht lassen Sie sich auf die folgende Gedankenabfolge ein? Wenn wir unsere Erfahrung als „das Mass der Dinge“ hernehmen, dann reduzieren wir unsere Freiheit, eine eventuell objektive Wahrheit besser zu erkennen.

Unsere Lebenserfahrung gaukelt uns eine Sicherheit vor, die wir tatsächlich nicht haben. Sind wir uns doch deren nur zwei Dingen ganz sicher: „Erstens, dass wir sterben“ und zweitens, „dass wir nicht wissen wann“.

Sind wir im gegenwärtigen Moment, dann korrelieren wir die Information und untersuchen, inwieweit wir nicht nur aufnahmefähig sind, sondern auch noch, wie unsere Beziehungswelten für uns aussehen. Dies passiert immer subjektiv. Präsenz bedeuted dann, sich über diese subjektive Information im Klaren zu sein und die Sicherheit loszulassen.

Präsenz meint neutral aufnahmefähig sein. Wenn Ihr Lebenspartner zum Beispiel beim Abendessen plötzlich in die Hände klatscht, dann sind Sie aufmerksam und präsent aber haben das Klatschen schon als etwas definiert, nämlich: Ihr Partner möchte Aufmerksamkeit. Wenn Sie jedoch am Ende des Konzerts mitklatschen, zeigen Sie dem Künstler, dass Ihnen seine Aufführung gefallen hat.

Unser Verhalten wird dadurch stimuliert, was um uns herum geschieht. Gehen wir nachts alleine durch den Wald, hören wir eine Menge Geräusche, die uns sehr aufmerksam sein lassen. Wenn das Gegenüber gähnt, während wir die beste Geschichte unseres Lebens erzählen, nehmen wir an, dass wir ihm nicht wichtig sind, dass er/sie gelangweilt ist, während er/sie vielleicht tatsächlich nur einfach müde ist. Wir erfrischen und täuschen uns mit gewissen Erwartungen, die wir haben. Wir nehmen Interpretationen vor. Wir sind fokussiert, aufmerksam und achtsam, aber das bedeutet nicht, dass wir offen und präsent sind.

Präsenz bedingt für alles Mögliche offen zu sein. Die sensorische Information aufnehmen, wirken lassen, aber nicht mit dem Intellekt beobachten. Wenn wir rational beobachten, dann bewerten wir häufig. Wenn wir bewerten, reduzieren wir unsere objektive Aufnahmefähigkeit, weil wir nur bewerten können aufgrund unseres subjektiven Weltbildes.

Damit kommt ein wichtiger Aspekt der Präsenz ins Spiel. Präsenz bedingt Vertrauen. Vertrauen in sich, den anderen und in das Leben. Wir kennen Menschen, die uns vertrauen und in deren Präsenz wir uns wohlfühlen. Wir sprechen nicht umsonst von einer vertrauensvollen Beziehung. Darauf vertrauen, dass der andere sehr wohl Gründe für sein Verhalten hat, das er gerade an den Tag legt und wir uns vielleicht überlegen und fragen könnten: „Bin ich präsent oder bewerte ich schon?“.

Das Gegenteil von Präsenz ist, mit den Gedanken woanders zu sein. Laut einer Harvard Studie sind wir fast zu 50% unseres Daseins nicht präsent. Wenn der andere uns erzählt, wie schön der Urlaub in Sizilien war und wir ihn darauf hinweisen, dass die Küche auf Kreta unserer Meinung besser als die Italienische ist, dann sind wir eben nicht präsent und auch nicht achtsam.

Mit der Präzens ist es so, dass wir – erneut als Hypothese – uns überlegen können, ob denn glücklich Sein und Präsenz etwas miteinander zu tun haben. Ich meine ja, weil, wenn wir präsent sind, dann sind wir uns bewusst, dass wir nach Sicherheit streben und dass damit unsere Gedanken fast nur beeinflusst sind durch unsere gesammelten Erfahrungen. Praktizieren wir Präsenz, indem wir bewusst erkennen, dass unsere angestrebte Sicherheit uns limitiert und entwickeln wir stattdessen eine Vorliebe für das Unbekannte, für Unsicherheit und der damit verbundenen Neugierde, dann – so glaube ich – kommt mehr Abwechslung ins Leben und wir lernen jeden Tag Neues dazu und sind damit glücklicher. Präsent sein und sich immer wieder erinnern, dass man die Sache vielleicht schlicht und ergreifend falsch sieht, öffnet die Türe zu deutlich mehr Achtsamkeit.

 

P.S.

Überraschenderweise sind uns gestern Konzertkarten ins Haus geflogen. Wir hatten das grossartige Vergnügen, Charles Dutoit und Martha Argerich live in Zurich zu erleben. Das erwähne ich, weil ein Dirigent auf der Bühne den Inbegriff der Präsenz darstellt. Er ist im Hier und Jetzt, er hat eine Absicht, er kommuniziert synchron mit einer authentischen Körpersprache, er führt und kontrolliert das Orchester, er gibt sofort Feedback – er ist präsent und das spürt das Orchester wie auch das Publikum. Ich wünschte mir, ich wäre häufiger wie ein Dirigent, auch wenn ich alleine bin.

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