Wer sind Sie?*

Einer der grossen Meister in der Yoga Tradition, Ramana Maharschi (1879-1950), war der Meinung, dass wichtiger als Bücher zu lesen, den inneren Frieden zu finden, tagelang zu meditieren oder Inspiration zu finden, sei, sich immer wieder folgende Fragen zu stellen:

Wer bin ich?

Wer sieht, wenn ich sehe?

Wer hört, wenn ich höre?

Wer weiss, wenn ich mir bewusst bin?

Wer bin ich?

Eventuell finden Sie wie ich, Interesse, die Frage „Wer bin ich?“ genauer zu untersuchen. Wenn wie früher an dieser Stelle die Behauptung von mir aufgestellt wurde, dass „die Qualität der Fragen die Qualität der Antworten“ widerspiegelt, dann könnte es erfrischend sein, der Frage etwas mehr auf den Grund zu gehen.

Wir kennen uns noch nicht und treffen uns bei einem Cocktail. Die Reise beginnt:

„Guten Tag, mein Name ist Harry Groenert…“

Ich versuche charmant, mit einem freundlichen Lächeln das Eis zu brechen und reiche meine Hand. Entsprechend unserem gemeinsamen Kulturhintergrund erfasst mein Gegenüber meine Hand, alles andere würde als Affront verstanden werden (laut Val Curtis, London School of Hygiene & Tropical Medicine, wäre ein Bussi auf die Wange weniger ansteckungsgefährlich), und antwortet zum Beispiel:

„Ursula Müller, freut mich, Sie kennenzulernen.“

Ob sie sich wirklich freut, wird sich noch herausstellen. Mit dem Schalk, den ich heute im Nacken trage, fordere ich Ursula heraus, nehme mein Notizbuch heraus und schreibe die Buchstaben

Ursula   Müller

aufs Blatt und zeige es ihr. Mit liebenswürdigem Lächeln schaue ich ihr tief in die Augen an und frage:

„Das sind Sie, eine Anhäufung von Buchstaben?“

Freundlich und mitspielend antwortet sie:

„Okay, da haben Sie recht. Tut mir leid, ich bin nicht Ursula Müller, das ist nur mein Name. Das ist eine Bezeichnung, ein Label. Tatsächlich bin ich Urs Müller’s Frau.“

So schnell gebe ich heute nicht auf und sage:

„Unmöglich und politisch in der heutigen Zeit nicht akzeptabel. Wie können Sie Urs‘ Frau sein? Wollen Sie mir sagen, dass bevor Sie Urs getroffen haben, Sie nicht existiert haben, und was passiert mit Ihnen, wenn er stirbt oder Sie sich neu verheiraten? Urs’ Frau kann nicht sein, wer Sie sind. Das ist erneut ein Label. Also dann, wer sind Sie?“

Ursula kontert:

„Okay, Sie haben jetzt meine ganze Aufmerksamkeit. Mein Name ist Ursula Müller. Ich erblickte 1989 das Licht der Welt. Ich lebte bei meinen Eltern, Karl und Inge, im Kreis 1 und als ich 6 Jahre alt war, ging ich auf die Grundschule, um mit 14 auf das Gymnasium zu wechseln. Vor der Universität hatte ich diverse männliche Bekanntschaften, aber nicht wirklich von Dauer. Später studierte ich Philosophie in St.Gallen, traf Urs und heiratete ihn nach zwei Jahren. Das bin ich.“

Hmm, interessante Geschichte, aber ich hatte nicht gefragt, was bisher seit Ihrer Geburt passiert ist. Ich hatte gefragt, „wer sind Sie?“ und Sie beschreiben mir Ihre Erlebnisse, aber wer hatte diese Erlebnisse?

„Wären Sie auch hier, im Gespräch mit mir, wenn Sie auf eine andere Uni gegangen wären und Urs nicht getroffen hätten?“

Ursula wird nachdenklich und bemerkt, dass sich die Frage „wer bin ich?“ tatsächlich gar nicht so einfach beantworten lässt und antwortet nach einer kurzen Pause:

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„Okay, ich bin der Körper, der hier im Moment diesen Raum einnimmt. Ich bin 1,72 Meter gross, wiege 55 Kilo, mein BMI ist 18,6 meine Körbchengrösse ist 75B und hier stehe ich.“

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In der Zwischenzeit sind Ursula und ich per Du.

„Als Du in der fünften Klasse warst, da warst Du noch kleiner als 1,72. So, wer bist Du? Die elfjährige mit 1,48 oder die mit 1,72?“

Vielleicht müssen wir erstmal tief Luft holen und ein paar einfachere Fragen beantworten, bevor wir die Kernfrage „Wer bin ich?“ erneut aufgreifen.

Als wir zehn Jahre alt waren und uns im Spiegel anschauten, sahen wir den Körper eines zehnjährigen Kindes oder sahen wir uns? Wie sieht das aus, wenn wir uns heute im Spiegel sehen im Vergleich zu gestern? Was wir sehen erscheint klar, wir haben uns körperlich verändert, aber wer sieht?

Oder anders, wenn wir heute Nacht ins Bett gehen, werden wir träumen. Wer träumt? Was heisst es, zu träumen?

Die Antwort könnte sein, „es ist wie ein Film, der in meinem Kopf abläuft und ich sehe zu.“

„Wer sieht den Film? – Ich.“

Ist das das gleiche Ich, das wir im Spiegel sehen, das diese Zeilen liest und sich an den Traum erinnert?

„Ja, das bin ich“, ist die beste Antwort, die wir finden.

Wer hat diese Erfahrung, diese Gedanken, die uns in den Kopf steigen, während wir etwas beobachten oder uns zu Gemüte führen.

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„Ich!“

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Ich ist innen und Dinge sind aussen, d.h. alles was wir als Objekt sehen können, können nicht wir sein. Offensichtlich einfach- und doch, wir empfinden die Dinge aussen als in uns drinnen.

Stellen wir uns vor, wir beobachten einen Hund, der mit dem Tennisball spielt. Plötzlich hören wir ein uns unbekanntes Geräusch – klingt wie eine Klapperschlange – direkt hinter uns. Beobachten wir weiterhin mit dem gleichen Fokus den Hund? – Sicherlich nicht. Obwohl der Hund vor uns weiterspielt, fühlen wir die Angst in uns, eventuell von einer Klapperschlange angegriffen zu werden.

Unsere Aufmerksamkeit ist bei unseren Emotionen, in diesem Fall der Angst. Aber wer fühlt diese Angst? Ist es nicht der/die/dasselbe, welches den Hund beobachtet?

So, wir können Dinge ausserhalb sehen und empfinden und Dinge innerhalb fühlen.

Gedanken fliessen, können zwar aufhören aber können auch sehr laut sein. Wir mögen sogar unserem Freund mitteilen:

„Meine Gedanken machen mich verrückt. Seitdem er das gesagt hat, habe ich keine Ruhe mehr. Mein Hirn schaltet nicht ab. Ich kann nicht mehr gut schlafen“

Welche Gedanken, welches Hirn, wer beobachtet dies? Wenn wir versuchen, den Gedanken an die grauen Elefanten wegzuschieben, nicht an ihn zu denken – können wir den Gedanken immer noch beobachten. Wie kriegt man den Elefanten in den Kühlschrank?

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Tür auf, Elefant rein – Tür zu.

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Wir sind uns unserer Gedanken bewusst. Wir kommen zu einem Ergebnis:

„Okay, ich bin nicht irgendwas ausserhalb und ich bin nicht meine Emotionen.“

Diese äusseren und inneren Objekte kommen und gehen und ich empfinde sie. Und ich bin nicht die Gedanken, die ich beobachte.

Die können angenehm, unangenehm, gewollt oder ungewollt, glücklich oder traurig sein und ich beobachte sie nur.

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Aber wer bin ich?

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Wir könnten antworten:

„Ich bin der, der sieht, hört und fühlt. Von irgendwo hier innen, weit hinten. Ich schaue nach innen und draussen und ich beobachte Gedanken, Emotionen und Ereignisse, die sich vor mir abspielen.“

Laut Ramana Maharschi ist es genau dies. Wir können entscheiden, einfach im Bewusstsein zu leben, ohne Aufwand und ohne Erwartung.

Genauso so, wie wir das Wetter, die Natur und aufwandlos das Aussen beobachten, können wir uns auch nach hinten setzen und einfach unser Inneres bewusst beobachten.

Dies ist das Zentrum unseres Bewusstseins. Hinter alledem sind wir. Das ist Zuhause, das bin ich. Alles andere um einen herum wegnehmen, dann bleibt das Sofa für das Ich. Unser Bewusstsein. Nehmen wir dies auch weg, dann ist da nichts mehr.

Bewusst leben beginnt, wenn wir den Sessel als Beobachter einnehmen und dann antworten auf die Frage:

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Wer bin ich?

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Inspiriert: Michael A. Singer, „The Untethered Soul – The Journey beyond yourself“

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Ich schreibe über Erfahrungen die mir wichtig erscheinen.