Bild: Ferdy Korpershoek

Ein zurecht berühmter und erst vor kurzem emeritierter Kollege, dessen Bücher, Argumente und intellektuelle Eleganz ich seit meinen akademischen Anfängen sehr bewundere, sagt oft mit scheinbarer Bescheidenheit von sich, er habe nur eine gute Idee gehabt – und kehrt dann, nach einer kleinen Kunstpause, die Wirkung des Satzes um, indem er hinzufügt, so schlimm sei das nicht, weil die meisten ja nicht mal eine hätten.[1]

Eine Idee trauen wir uns zu und da kann jeder mitreden: Die Zeit läuft und läuft und läuft uns oft davon – und scheint stehen zu bleiben, wenn wir, im Platzregen frierend und nass bis in die Unterwäsche weil Schirm vergessen, auf den Bus warten.

Gibt es objektive Zeit oder ist Zeit eine Sache des Geistes, des Gefühls? Erinnern können wir uns nur an die Vergangenheit (davon hat die deutsche Sprache drei). Anschauen bietet sich für die Gegenwart an und erwartet wird die Zukunft. Wie lange dauert die Gegenwart genau?

In der Sprache kann sie sowohl in der Gegenwart, Vergangenheit als auch in der Zukunft stattfinden: Das ist Felix. Jeden Dienstag geht er zum Fussballtraining. Er spielt schon seit fünf Jahren Fussball. Nächsten Sonntag um 14.00 Uhr hat seine Mannschaft ein wichtiges Spiel.

Die Zeit, wie Physiker sie früher verstanden, ist seit Einstein nicht mehr dieselbe. Einstein hat aber nicht das relative Zeitempfinden des Menschen studiert. Er hat vor 100 Jahren tatsächlich an der Uhr gedreht. Uhren laufen nicht an jedem Ort des Universums im gleichen Takt: Je nachdem, wer sie betrachtet, ticken sie schneller oder langsamer.

Wenn die Gegenwart relativ ist, wir aber – da sind wir uns einig – nur in der Gegenwart leben können, dann sollten wir uns über die Qualität der Gegenwart ein paar Gedanken machen. Nicht die der physikalischen Gesetze, sondern die, die wir mit Leben erfüllen können.

Das ist die eine Idee:

Nirgends ist, wer überall ist.

Seneca

Und die Lösung dafür ist Präsenz. Präsent sein ist nicht nur beim Zuhören erwünscht, sondern im Prinzip immer. Zu 47% unserer Zeit laufen wir gemäss einer Harvard Studie auf Autopilot. Diese Studie besagt zudem, dass Gedankenverlorenheit eine Ursache für unglückliches Sein ist. Wir sind eh nicht so lange Gast auf diesem Planeten und beinahe die Hälfte unserer Zeit mit unseren Gedanken irgendwo zu verbringen, anstatt bei der Sache zu sein, im Moment zu sein, macht wenig Sinn – schon gar nicht beim Zuhören und im Dialog. (Zuhören Meistern – Besser Kommunizieren, Lektion 20: Die Kunst der Präsenz)

Das Kultivieren der Achtsamkeit, des Gewahrseins im Moment, ohne zu bewerten aber zu geniessen, kann man mit etwas Training lernen. Letztendlich ist es eine Attitüde: eine innere Einstellung und eine Lebenshaltung.

Gewahrsein kann man lernen. Präsent sein kann man lernen. Ist mit Aufwand verbunden wie alle guten und lohnenswerten Dinge. Und wie beim Radfahren oder urinieren, hat man es mal intus, dann geht es kaum mehr in die Hose. Was bringt es? Es erhöht die Lebensqualität für immer!

Braucht kein Yogatraining, keine zwölfmonatige Meditationsausbildung oder den Bildungsurlaub mit dem Guru in Indien im Ashram.

Jon Kabat Zinn ist mein Vorbild und alles was folgt, habe ich von ihm gelernt. Jon Kabat Zinns 9 Impulse zu mehr Achtsamkeit und Aufmerksamkeit:

 Anfänger Geist (Beginners Mind)

Jeder Moment ist einzigartig, immer neu, wir waren noch nie in diesem Moment zuvor und doch bringen wir so viele Ideen, Wünsche und Attitüden mit, sodass wir uns kaum erlauben, Dinge mit einem Anfänger-Geist zu betrachten. Oft fühlen wir uns als Experte und das nimmt uns die Fähigkeit, Varianten und Alternativen zu sehen; wir limitieren unsere Erfahrungsfähigkeit. Im Anfänger-Geist sind die Möglichkeiten unbegrenzt.

⇒ Nicht bewerten (Non-Judging)

Eine wirkliche Herausforderung, haben wir doch Ideen und Meinungen über praktisch alles, was um uns herum passiert. Wir entscheiden: „das mag ich“, „das mag ich nicht“, „das ist gut“, „das ist schlecht“ – ein nicht endender Fluss von Bewertungen. Das können wir kaum ändern wäre es doch Bewertung des Bewertens, aber wir erkennen, dass wir oft nur Schwarz-Weiss sehen und das schränkt uns ein. Wir trainieren unser Unterscheidungsvermögen, wenn wir die Farbenvielfalt im Gegensatz zu Schwarz-Weiss wählen, indem wir beobachten, dass wir bewerten und es dann neutral mit unserer Erfahrung vergleichen.

⇒ Akzeptieren (Acceptance)

Akzeptieren ist alles andere als passiv. Es ist eine aktive Erkenntnis, dass die Dinge so sind, wie sie sind. Manchmal sind sie nicht so, wie wir sie gerne hätten. Akzeptieren bedeutet nicht, dass wir Dinge nicht ändern können, sondern, wenn wir die Dinge nicht so akzeptieren wie sie sind, dann nimmt uns das die Möglichkeit zu definieren, wo wir stehen und wenn wir nicht wissen, wo wir stehen, dann wird es schwierig, den ersten Schritt zu tun.

⇒ Loslassen (Letting Go)

Es ist unausweichlich, dass wir manches mögen und anderes vermeiden. Loslassen meint, es belassen wie es ist und sich nicht fest klammern, denn man kann es nicht ändern. In Indien werden Affen auf eine bestimmte Weise gefangen. Die Inder befestigen eine Kokosnuss mit einem Seil an einem Baum, mit einem Loch in der Nuss, gerade gross genug, dass ein Affe seine Hand knapp durchbringt und die Banane dahinter ergreifen kann. Wenn der Affe die Banane erfasst hat, bringt er seine Hand nicht mehr durch das Loch der Kokosnuss, er ist gefangen, ausser er lässt los…

⇒ Vertrauen (Trust)

Das fängt bei einem selbst an. Vertrauen, dass unser Körper und unser Geist sich um uns kümmern. Wenn wir unserem Atmen, unserer Verdauung nicht trauen könnten, dann hätten wir mehr als grosse Schwierigkeiten. Wenn wir unserem Geist und unserem Herzen trauen, dann können wir auch der Grossartigkeit und Einzigartigkeit der Natur trauen und eben auch uns selbst trauen. Sind andere Menschen involviert, wird es etwas komplizierter, wollen wir doch nicht naiv vertrauen, aber andere Weisheit hilft da.

⇒ Geduld (Patience)

Manchmal sind wir ungeduldig und wollen schon bei der nächsten, wichtigen Aktivität sein und damit verlieren wir den Moment. Geduld kultivieren und erkennen, dass sich die Dinge in ihrer eigenen Geschwindigkeit entwickeln. Wenn wir permanent woanders hin hetzen, dann sind wir tatsächlich nicht da, wo wir eigentlich immer sind: Im Jetzt. Die Zeit des Schmetterlings in Kokon kann nicht verkürzt werden.

⇒ Nicht tun (Non-Striving)

Wir haben so viele Agenden und wir sind immer auf dem Weg zu einem besseren Moment in der Zukunft oder versuchen, dem Etwas aus der Vergangenheit zu entkommen. Je länger die To-Do-Liste umso wichtiger ist es, Nicht-Streben zu kultivieren; was im Hier und Jetzt ist, ist meistens schon genug, auch wenn es manchmal unangenehm ist. Das bedeutet nicht, nichts zu tun, sondern aus dem Sein heraus, aus dem Gedanken „so ist es“ im Moment etwas schaffen.

⇒ Wertschätzung (Gratitude)

Den Moment wertschätzen – wir sind am Leben. Wir nehmen dies oft allzu sehr als gegeben hin. Der Körper, das Atmen, Hören, Sehen, Riechen, Tasten – alles funktioniert. Wir haben das Privileg, uns in einem interessanten Dialog zu befinden.

⇒ Wohlwollen (Generosity)

Wie befriedigend ist es, zu geben. Grosszügig zu geben ohne etwas zu erwarten, den anderen zu unterstützen, ihn glücklich zu machen. Dem anderen Zeit, Aufmerksamkeit und Gedanken schenken, nicht, um sich auf die Schulter zu klopfen, sondern weil es dem anderen Freude bringt, Beziehung schafft und seine Bedürfnisse unterstützt. Dies demonstriert, dass wir der Person Beachtung und Respekt zeigen.

Diese 9 Gedanken helfen, den Moment zu kultivieren, helfen, mehr Achtsamkeit zu entwickeln. Sie bedingen (idealerweise) tägliches Training und Achtsamkeit um der Achtsamkeit willen. Gerade im Gespräch und beim Zuhören so wichtig, um den anderen zu verstehen, ohne ihn oder was er sagt, zu be- oder verurteilen.

Interesse geweckt? Aktiv werden?

Der heutige Artikel ist der Lektion 20 im E-Kurs „Zuhören Meistern – Besser Kommunizieren“ entnommen.

(Link zu Jon Kabat Zinns 9 Attitudes (Englisch) Video, 26.27 Minuten)


[1] Hans Ulrich Gumbrecht, Unsere breite Gegenwart

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