Klein aber fein
Das fast heisse Wasser ergiesst sich unter der Dusche wieder angenehm über meinen Heldenkörper, nachdem ich den Brausekopf, respektive das Teil mit den Löchern mit Essig entkalkt hatte. Und dann, zum Ende des Duscherlebnisses auf kaltes Wasser wechseln und für zehn bis zwanzig Sekunden (das ist verdammt lang) geniessen – wunderbar.
Angefangen hatte dies mit einer wissenschaftlichen Studie „Wie lange braucht es, um eine Gewohnheit zu bilden?“ (University College London, 11.000 Mitarbeiter, >30,000 Studenten) durchgeführt wurde. UCL hat festgestellt, dass es im Schnitt 66 Tage braucht, um eine neue Gewohnheit anzunehmen. Das glaube ich prinzipiell so nicht, habe ich doch eine ex-kettenrauchende Bekannte, die über Nacht zur Nichtraucherin wurde – aber ist dies der Normallfall?
Ich liebe es, meine Komfortzone zu erweitern, also war es Zeit für ein Experiment. Ausser, mich nach dem Saunagang mit der Schwallbrause kalt abzuduschen (und danach Tauchbecken), war mir allein schon der Gedanke, dies täglich am Morgen zu tun, mehr als unvorstellbar. Aber ich wollte es wissen und so begann ich am 29. Dezember 2016, mich nach dem schönen heissen Duschen kalt abzuschrecken. Heute ist Tag Nummer 66 und ich geniesse diese zehn bis zwanzig Sekunden am Morgen richtig.
Die ersten Tage, wenn nicht sogar ein paar Wochen, traute ich mich gerade mal die Arme und Beine kalt zu brausen – und doch, so nach etwa 40 Tagen, im Februar, draussen kalt, stand ich vollends unter dem kalten Wasserfall. Einmal hatte ich „kalt“ glattweg vergessen, aber bevor ich mich abgetrocknet hatte, ging ich zurück unters kalte Wasser, weil mir tatsächlich etwas fehlte.
Was sind Gewohnheiten? Gewohnheiten sind Aktivitäten, die automatisch durchgeführt werden, weil sie schon häufig in der Vergangenheit praktiziert wurden. Diese Wiederholungen kreieren eine mentale Assoziation zwischen einer Situation (Auslöser) und einer Aktion (Verhalten), meint, wenn der Trigger erfolgt, dann wird das Verhalten automatisch ausgeführt. Automatismen haben viele Komponenten und eine davon ist, wir denken nicht darüber nach – wir tun es einfach.
Alle Veränderung erscheint schwer und Gewohnheiten ändern umso mehr – und so vieles, was wir den lieben langen Tag alles unternehmen, ist letztendlich eine Aneinanderreihung von Gewohnheiten.
Zumindest die schlechten Gewohnheiten würden wir doch gerne ändern, oder?
„Die einzigen Menschen, die Veränderung mögen, sind Babys mit vollen Windeln.“
Mark Twain
Sind wir mit dem Ist-Zustand nicht zufrieden oder haben wir ein attraktives Ziel vor Augen, dann wollen wir Veränderung – nämlich von A nach B – und doch ertappen wir uns: „Ich würde ja, aber…“, „das hätte ich schon längst erledigt, aber…“ – und unser Unterbewusstsein packt uns am Schopf. Sätze mit „würde“, „hätte“, „könnte“, „sollte“, „wollte“ etc. sind alles Hinweise darauf, dass wir schon eine Entschuldigung in unserem Hirn akzeptiert haben und uns damit eben nicht verändern.
Klein, aber fein oder der Teufel versteckt sich im Detail. In meiner Arbeit erkenne ich immer wieder, dass dann Ergebnisse erzielt werden, wenn man sich mit den Grundprinzipien auseinander setzt. Wenn man nicht weiss, was man warum ändern will und was wirklich als Ergebnis gewünscht ist, dann ändert sich erst mal nichts – und dann, wenn man weiss, welche Fehler sich gerne als Stolpersteine in den Weg legen, kann man sie in feinen Sand zerlegen und genüsslich weiter gehen. Hier die üblichen Verdächtigen mit Lösungsansätzen:
Zuviel auf einmal
Wir wollen entweder alles oder gar nichts – so als ob die Welt schwarz/weiss wäre. Jeder, der den Mount Everest besteigen will, weiss, dass es nur Schritt um Schritt geht. Bei Verhaltensänderungen zeigt uns die Wissenschaft, je kleiner der Schritt, umso einfacher wird das Ergebnis (eine positive Gewohnheit) erreicht. Etwas, jeden Tag, konsequent um 1% verbessern, führt im Laufe eines Jahres eben nicht zu 365%, sondern zu 3.778% (Einsteins „Achtes Weltwunder“ = Zinseszins). Auf der weltberühmten Coaching-Skala von zwei gleich auf zehn zu zielen, ist häufig zum Scheitern verurteilt. Der Sprung ist zu gross und erscheint dadurch unerreichbar. Von der Couch direkt zum Marathon funktioniert nicht.
Ansatz: Strategie der kleinen, aber feinen Schritte. Die sich zu stellende Frage lautet: „Angenommen, ich wäre einen kleinen Schritt weiter, was genau wäre dann anders?“ Wie isst man einen Elefanten? – Häppchenweise!
Morgen passt es dann
Zumindest glauben wir, dass wir morgen über die notwendige Willenskraft verfügen, so wie nach feuchtfröhlicher Nacht mit Freunden, wir uns am nächsten Morgen schwören, dass es heute Abend keinen Alkohol gibt – und daran glauben. Tatsache ist, wissenschaftlich in hunderten von Experimenten nachgewiesen, unsere Willenskraft ist begrenzt und nutzt sich zudem noch im Laufe des Tages ab. Berühmt sind die Studenten, die Süssigkeiten oder Radieschen als Auswahl vor sich auf dem Tisch hatten. Die eine Gruppe durfte nur Radieschen essen – oh, wie gut die Berliner und Krapfen riechen – verbrauchten jedoch Willenskraft und im folgenden Test, der keine Lösung hatte, gaben die Radieschen-Esser im Schnitt nach acht Minuten auf, während die Süsswaren-Studenten sich zwanzig Minuten mit dem Problem beschäftigen, bevor sie das Handtuch warfen.
Ansatz: Gewohnheiten entwickeln, die automatisch ablaufen. Die Reflexe trainieren. Z.B., wenn der Kollege einen anmacht, erst mal tief durchatmen und nichts sagen – oder nach dem Zähneputzen die Zähne flossen (mit nur einem anfangen, siehe oben) – oder wie ich, nach dem Pinkeln Liegestützen, ich fing damals mit einer an und bin heute bei circa 40-50 am Tag. Ich mach das nur bei Tageslicht – werden jetzt im Sommer dann mehr.
Hin- oder Vermeidungsziele
Gewohnheiten ändern funktioniert nur, wenn man ein Ziel hat. Wenn dann auch noch die Motivation stimmt, dann wird’s einfacher. Wir formulieren gerne Vermeidungsziele: „Ich will keinen Stress mehr haben.“ Vermeidungsziele befinden sich überwiegend im Bewusstsein, nicht so sehr im Unterbewusstsein, welches ein höheres Einflussvermögen auf unsere Gewohnheiten hat – und mit „Nicht“ hat unser Unterbewusstsein so ein Problem. Sie können sich leicht die Ossobuco Scheiben, die ich gerade, nach dem Anbraten, auf das schon angeschmorte Gemüse gelegt habe, vorstellen. Die gehen jetzt gleich für ein paar Stunden in den Ofen. Jetzt stellen Sie sich bitte „keinen roten Elefanten“ vor. Das Unterbewusstsein negiert das „nicht“ einfach. Verneinungen lassen sich schwer in die Sprache des Unterbewusstseins übersetzen, im Gegenteil, wir sehen das Bild von dem, was wir nicht haben wollen.
Ansatz: Statt „Ich will weniger Stress“ lieber „Ich gönne mir regelmässig Ruhepausen.“ Hinziele bieten einen positiven und attraktiven Anreiz – oder haben Sie nicht auch beim zweiten Satz Ihren Lieblings-Erholungsort gesehen, die Bank in der Sonne am Waldrand oder das genüssliche Ausruhen nach dem Saunagang, eingemummelt in der Schmusedecke. Es mag anfangs gewöhnungsbedürftig sein, Hinziele zu formulieren, aber es lohnt sich.
Innere Konflikte
Innere Konflikte durch unterschiedliche Motive sind uns oftmals gar nicht bewusst, laufen erneut auf der unbewussten Seite ab. Wir können sie nicht in Worte in fassen – wissen nur, da stimmt etwas nicht. Wir wollen, aber können unsere Gewohnheit(en) nicht ändern. Damit verbrauchen wir unbewusst Energie, die uns bei der Veränderung dann fehlt. Häufig sind dies Ängste vor Veränderung und den eventuellen Konsequenzen, oder davor, dass wir versagen und es nicht umsetzen können. Das kostet enorm viel Energie.
Ansatz: Die wirkliche Motivation analysieren. Was will ich warum und was gibt es mir tatsächlich. Gewohnheiten aufbauen und/oder verändern bedingen ein solides Fundament, zu dem wir voll und ganz stehen können.
Mir erscheint es Wert, Zeit damit zu verbringen, sich zu überlegen, wie hoch denn der Prozentsatz unserer täglichen Aktivitäten ist, der den Gewohnheiten zugeordnet werden kann – sich die guten Gewohnheiten genussvoll zu Gemüte führen und die, die den eigenen Anforderungen noch nicht genügen, in kleinen Schritten und nacheinander angehen.