Will man sein Leben bewusst gestalten, gibt es, wie ich sie nenne, 5 Kardinalfragen:

Wer bin ich?

Was ist mein Talent?

Wofür bin ich hier?

Was mache ich damit?

Wann fange ich an?

Auf den ersten Blick scheinen das einfache Fragen zu sein. Dann könnte man anfangen, darüber nachzudenken. Und dann merkt man vielleicht: So einfach ist das nicht. Heute beschäftigen wir uns nur mit der ersten Frage und in den nächsten 4 Wochen mit den restlichen.

Zu Frage 1 habe eine sehr interessante Passage in Nora Batesons Buch „Small Arc of Larger Circles: Framing through our patterns“, die ich für dich nachfolgend übersetzt habe. Einige Leser kennen vielleicht Gregory Bateson, und ja, Nora ist seine Tochter.

Wer bin ich?

„Die Grammatik suggeriert fälschlicherweise, dass ich im Singular stehe. Es fehlt eine Verbkonjugation für die erste Person Plural – nicht für wir, sondern für ich.

Diese Singularität ist ein semantischer, ideologischer, epistemologischer, kultureller, biologischer, ökologischer, evolutionärer, epigenetischer, geschlechtsspezifischer und nationalistischer Fehler.

Diese Singularität ist eine große Gewalt und ein Schweigen über alles, was ich im Plural bin. Die Pronomen sind irreführend. „Ich“ erweckt den Eindruck, dass ich irgendwie individuell und unabhängig bin, während jedoch die gegenseitige Abhängigkeit Gesetz ist.

„Wir“ scheint eine umfassendere Wahl zu sein, aber es löscht die Vielfalt der Perspektiven aus. Welches „Wir“? „Wir“ im Sinne der westlichen Zivilisation (was auch immer das sein mag) oder der Menschheit oder des gesamten Lebens?

Was ist mit „Wir“ gemeint? Als weißes Mädchen sollte ich verdammt vorsichtig mit dem „Wir“-sein, denn damit nehme ich mir das Recht heraus, über Erfahrungen zu sprechen, die ich nicht kenne, nicht kennen kann. Das „Wir“ ist weniger unabhängig, aber nicht förderlich für ein vielfältiges gegenseitiges Lernen.

Das „Du“ trennt uns, zeigt mit dem Finger auf uns und stiftet Verwirrung.

„Sie“ ist eine Illusion. „Wir“ ist irgendwie nicht „sie“. Als ich in Thailand lebte, lernte ich, Pronomen zu verwenden, um die Beziehung auszudrücken, aber es war so kompliziert, dass ich schließlich anfing, einfach meinen Namen zu verwenden. „Nora hat Hunger, Nora ist deine Freundin“. Dritte Person, erste Person, zweite Person, alles gleichzeitig.

Vielleicht führt die Verwendung aller Pronomen zu einer gesunden Verwirrung. Ich bin wir, sind sie, sind du. Meine Englischlehrer rollen mit den Augen.

Sollen sie doch. Die Welt brennt. Wir sehen die Integrität des Lebens nicht. Die Grammatik muss sich entwickeln.

Wofür es keine Worte gibt, kann man oft nicht sehen. Kannst du den Plural sehen, der ich bin? Ich nehme an, dass du einige der gleichen Pluralformen hast. Diese Vermutung macht es schwierig, dich zu definieren.

Hier sind meine: Ich, ich, Nora. Du, bin, bist …

Mehr als 10 Billionen Organismen leben in und auf meinem Körper. Ohne sie kann ich nicht leben.

Sie sind in meinen Wimpern und Augenbrauen, auf meiner Haut, in meinem Mund, in meinen Organen.

In meinem Darm leben Milliarden von Lebewesen, ohne die ich meine Nahrung nicht verdauen könnte. Ich hätte keine Energie für meinen Stoffwechsel, ich würde unter enzymatischen und anderen Ungleichgewichten leiden. Ich würde sterben.

Neun von zehn Zellen in meinem Körper sind Lebewesen und Teil der größeren Ökologie.

All diese Lebewesen leben in mir und auf mir.

Meine Gesundheit ist ihre Gesundheit, ihre Gesundheit ist meine Gesundheit. Wenn sie Hunger haben, habe ich Hunger, wenn ich zu viel Zucker esse, überproduzieren sie in bestimmten Populationen.

Meine Stimmung, meine Triebe, meine Instinkte sind mit ihnen verwoben. Ich bin nicht nur das, was in meinem Körper ist, ich bin auch meine Persönlichkeit, meine Kultur, meine Gefühle, mein Geist.

Ich bin, wer ich bin, durch das, was ich weiß. Aber die Klarheit dessen, was Wissen ist, ist fraglich.“

Bateson, Nora. Small Arcs of Larger Circles: Framing through other patterns (pp. 26-27). Triarchy Press. Kindle Edition.