Noch ist Winter, es ist saukalt, doch auch dieser Frühling wird
kommen – unweigerlich. Vieles kommt und geht. Die Pest zum Beispiel
1346-1353 forderte das Leben von rund 25 Mio. Menschen (damals circa ein
Drittel der europäischen Bevölkerung). Während der Spanischen Grippe
1918-1920, starben weltweit circa 40 bis 70 Mio. Menschen. Nach zwei
Jahren war der Virus verschwunden.

Du und ich, auch wir werden verschwinden. Aktuell, das ist schon
beruhigend, sind wir aber noch da. Und den Kaffee oder Tee gabs heute
Morgen auch. Nun, wenn wir schon (noch) da sind, dann könnten wir uns
fragen: «Was macht uns eigentlich glücklich?»

Sinn des Lebens könnte man vielleicht definieren als die «Sinne zu
leben». Laut dem Verhaltensökonomen Daniel Kahneman verzerren
Erinnerungen unsere Wahrnehmung von Glück. Diese Verzerrung, so erklärt
er, rührt von dem grossen Unterschied zwischen dem «erlebenden Selbst»
und dem «sich erinnernden Selbst» her, die viele Menschen – auch
wissenschaftliche Forscher – gerne miteinander verwechseln.

In einem der vielleicht besten Online-Vorträge, die ich je gesehen
habe, spricht der Nobelpreisträger Daniel Kahneman über den Unterschied
zwischen dem erlebenden und dem sich erinnernden Selbst.

(Hier sein Ted-Talk (mit Untertitel), der neben Scott Young die Inspiration für den heutigen Artikel ist.

Eine der verblüffendsten Erkenntnisse der modernen Psychologie ist, wie schlecht wir darin sind, zu erraten, was uns glücklich machen wird. Wir sind nicht nur lausig darin, vorherzusagen, was uns befriedigen wird, wir erinnern uns auch oft falsch an unser Glück in der Vergangenheit.

Glück ist ein interessantes Forschungsthema: Drei «kognitive Fallen» verhindern eine klare Analyse des Glücks. Erstens wenden Menschen das Wort «Glück» auf ein breites Spektrum von Gefühlen an und verwässern damit seine Definition. Zweitens versäumen es die Menschen, zwischen Erfahrung und Erinnerung zu unterscheiden: glücklich in seinem Leben zu sein versus glücklich über oder mit seinem Leben zu sein. Drittens leiden Menschen unter einer «Fokussierungsillusion», die die Bedeutung von allem, was ihr Wohlbefinden betrifft, verstärkt.

Kahnemans Punkt ist, dass unsere Diskussionen über das ideale Leben oft fehlgeleitet sind. Das liegt daran, dass wir zwei scheinbar ähnliche, aber tatsächlich unterschiedliche Konzepte verwechseln:

Die Qualität des Lebens, wie wir es erleben, von Moment zu Moment.

Die Qualität unseres Lebens, wie wir es in Erinnerung behalten und wie es in die Biografie unseres Lebens eingewoben ist.

Das Urlaubsdilemma – wird das ideale Leben gelebt oder nur erinnert?

Das Problem ist, dass unser erlebtes Glück nur lose damit korreliert, wie glücklich wir uns fühlen, wenn wir über unser Leben nachdenken.

Kahneman gibt das Beispiel eines zweiwöchigen Urlaubs. Angenommen, der Urlaub war in jedem Moment gleich angenehm, dann sollte ein zweiwöchiger Urlaub doppelt so gut sein wie ein einwöchiger Urlaub. Schließlich gibt es doppelt so viele Momente des Glückerlebens.

Aus der Sicht der Erinnerung ist ein zweiwöchiger Urlaub jedoch kaum besser als ein einwöchiger Urlaub. Das liegt daran, dass in der Zeit der Ferien keine wesentlichen neuen Erinnerungen hinzukommen, so dass all die ähnlichen Glücksmomente einfach vergessen werden.

Wie lange erinnert man sich an den besten Urlaub aller Zeiten? Vielleicht für eine halbe Stunde über die letzten vier Jahre?

Hier haben wir den Konflikt. Angenommen, du bist dabei, deinen nächsten Urlaub zu planen. Du bist sicher, dass es gut wird. Solltest du für eine oder zwei Wochen verreisen?

Um es noch noch interessanter zu machen, fragt Kahneman: Würdest du denselben Urlaubsort wählen, wenn du wüsstest, dass danach alle Erinnerungen zerstört werden, weil du ein Amnesie-Medikament einnehmen wirst, das dazu führt, dass du alles vergisst, was du während des Urlaubs gemacht hast?

Ein weiteres Beispiel: Jemand erzählte, er hätte eine Sinfonie gehört und es war absolut herrliche Musik, doch ganz am Ende der Vorführung gab es ein fürchterliches kreischendes Geräusch. Und dann fügte er hinzu, wirklich ziemlich emotional, das habe die ganze Erfahrung ruiniert.

Aber das hat es nicht. Was die Musikerfahrung ruiniert hatte, waren die Erinnerungen an die Erfahrung. Er hatte die Erfahrung erlebt. Er hatte 20 Minuten herrliche Musik gehört. Diese 20 Minuten zählten jedoch nicht, weil er in der Erinnerung des fürchterlichen kreischendem Geräusches steckenblieb. Diese Erinnerung ruinierte die vorherigen 20 Minuten.

Dies könnte dann zur Frage führen: Was macht das ideale Leben aus? Sind es unsere Erfahrungen von Augenblick zu Augenblick oder einfach die Erzählungen und Erinnerungen, die wir im Nachhinein weben?

Die Tyrannei des Biografen

Die Schwierigkeit, ein Leben zu entwerfen, besteht darin, dass dein erlebendes Selbst keine Stimme bekommt. Nur der Biograf, der Teil von dir, der sich an die Vergangenheit erinnert und die Zukunft vorhersagt, hat ein Mitspracherecht, wenn es darum geht, welche Karriere du wählst, wohin du in Urlaub fährst und mit welchen Menschen du deine Zeit verbringst.

Das ist nicht fair. Was du über dein Leben schreiben würdest, sind nur die Zeitsplitter, die durch unser Bewusstsein gehen und die sich wichtig anfühlen.

Dieses Problem geht über die allgemeine Erfahrung hinaus, etwas zu tun, um später darüber sprechen zu können. Wie zum Beispiel Menschen, die Marathon laufen, um dann sagen zu können, «dass sie es geschafft haben». Der Grund, warum unsere Erfahrungen keine Stimme bekommen, ist, dass sie bereits vom inneren Biografen übernommen worden sind.

Wir basieren zukünftige Entscheidungen nicht auf Erfahrungsglück, weil wir zu nichts anderem Zugang haben als zu diesem einen Bruchteil des Jetzt. Alles andere sind Erinnerungen und unterliegen den Vorurteilen des Geschichtenerzählers.

Das ideale Leben erleben, statt es nur zu erzählen

Ich weiss nicht, was du denkst, aber ich finde diese biografische Tyrannei inakzeptabel. Ich möchte nicht viel Zeit damit verbringen, ein Leben zu entwerfen, von dem ich mir einreden könnte, dass es grossartig sei.

Wie bei allen kognitiven Verzerrungen glaube ich nicht, dass es eine einfache Lösung gibt. Irren ist menschlich, und leider ist es auch so, dass man sich systematisch irrt.

Vielleicht helfen ein paar allgemeine Denkweisen, um die offensichtlichsten Fallen zu vermeiden. Hier sind ein paar mentale Gewohnheiten, die dir helfen mögen, der biografischen Tyrannei zu entkommen:

Innehalten und das Jetzt beobachten

Kahneman erklärt, dass die mittleren Momente im Gedächtnis oft verwaschen sind. Wir betonen, wann Dinge beginnen, wann sie enden oder wenn sich etwas dramatisch verändert.

Man könnte sich fragen, wie man sich im aktuellen Moment fühlt. Keine Bewertung für das ganze Leben, sondern eine Überprüfung des momentanen Geisteszustandes, quasi mit der Stoppuhr. Dies hat mir, so glaube ich, geholfen, mich besser daran zu erinnern, wie ich mich während einer vergangenen Zeitperiode gefühlt habe, statt nur am Ende das Fazit zu ziehen.

Eckhart Tolle hat Tausende von Büchern verkauft, in denen er die pseudo-spirituelle Weisheit predigt, im gegenwärtigen Moment zu bleiben. Abgesehen von der Tatsache, dass es sich dabei grösstenteils um einen Aufguss jahrtausendealter Ratschläge in einer neumodischen Verpackung handelt, habe ich das Gefühl, dass eine gewisse Popularität auf das Problem der biografischen Tyrannei zurückgeht. Wir sind so oft in die Gedanken an unser gesamtes Leben vertieft, an Zukunftssorgen, an vergangenes Bedauern, dass wir es versäumen, auf die Bruchteile des «Jetzt» zu achten, die tatsächlich unser Leben ausmachen.

Belohnende Routinen höher gewichten als kurze Ereignisse

Da sich Mittelmomente und Gleichförmigkeit in der Biografie unseres Lebens auswaschen, macht es Sinn, diese bei unseren Entscheidungen für die Zukunft bewusst höher zu gewichten.

Anders ausgedrückt: Es macht vielleicht mehr Sinn, sich darauf zu konzentrieren, wie der eigene Lebensstil die Routine beeinflusst, als auf einmalige Ereignisse (Erinnerung) zu fokussieren. Erleben entsteht durch die Aufmerksamkeitsfokussierung auf etwas – und das findet immer im «Hier» und «Jetzt» statt. Autonom entscheiden wir in jeder Sekunde, auf was wir uns konzentrieren. Es gibt zwar viele Einladungen aus der Vergangenheit, aber Einladungen kann man annehmen oder ablehnen. Da haben wir immer Wahlfreiheit.

Diese Erlebnisse (Vergangenheit), wie positiv sie auch sein mögen, setzen sich aus viel weniger Zeit zusammen als, sagen wir, die aktuelle Teilnahme an einem Workshop oder der Gang zum Einkaufen. Die Dinge, die wir jeden Tag tun, können, wenn sie positiv zu unserem Wohlbefinden beitragen oder auch davon ablenken, sind wichtiger als die kürzeren Ereignis-Erinnerungen. Zeitreisen in die Vergangenheit oder Zukunft sind nicht verboten, aber welche Auswirkungen haben sie auf unser aktuelles Wohlbefinden?

Wenn ich für die Zukunft plane, bedeutet das, dass ich viel mehr Zeit auf Entscheidungen verwenden sollte, die es mir ermöglichen, hunderte von Stunden langweiliger Unterrichtszeit zu vermeiden, anstatt zum Beispiel meine kurze, aber frustrierende Erfahrung ohne Strom und damit ohne Geschirrspülmaschine mehrfach zu durchleben. Das eine mag einprägsamer sein, aber das andere nimmt viel mehr von meinem Erfahrungserleben ein.

Schaffe einen Lebensstil, statt eines Ziels

«Das Leben ist eine Reise, kein Ziel» ist ein Klischee, aber in meiner Welt ist es immer noch wahr. Das ist einer der Gründe, warum ich ein Fan des Lifestyle-Design-Konzepts bin. Denn es dreht die typischen, leistungsorientierten Ambitionen vieler Menschen um, hin zu einem Lebensstil, der sich darauf konzentriert, wie man all die Momente «dazwischen» tatsächlich lebt und erlebt – selbstbestimmt und selbstwirksam!

Wenn ich mir neue Herausforderungen aussuche, dann achte ich darauf, dass ich mich für jene entscheide, die mir schon auf dem Weg zum Ziel Spass machen. Idealerweise versuche ich auch Ziele auszuwählen, die, wenn ich sie erreiche, mein Leben verbessern.

Der Lebensstil braucht eine Vision. Diese basiert auf den eigenen Grundwerten und ist wie der Polarstern. Die Vision gibt die Richtung vor, gerade in schwierigen Zeiten und die einzelnen Ziele, sind Etappenziele und damit Erfüllungsgehilfen der Vision.

Viele haben beim Besteigen eines Aussichtspunktes nur das Ziel im Auge und
sind oftmals enttäuscht. Der Kluge sieht sich unterwegs um und genießt
manchen schönen Ausblick. So auch im Leben.

Gottfried Keller

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