Werden wir, am Ende unseres Lebens angelangt, mit Gewissheit sagen können: ,,Es war einmalig!“: oder werden wir das Gefühl haben, nicht das verwirklicht zu haben, was uns im Innersten ausmacht? Bis zu den letzten Augenblicken unseres Lebens stellt sich die Frage der Sinn- und Selbsterfüllung.

„Sie (oder er) hatte ein erfülltes Leben!“, heißt es oft in Traueransprachen. Unter welchen Umständen ist diese Aussage berechtigt?

Man könnte sich fragen: Hatte oder habe ich denn selbst ein erfülltes Leben? Was ist das überhaupt, woran macht man das fest? Ist es gleichbedeutend mit einem ,,glücklichen Leben“? Offenbar nicht ganz. Kann ein Leben auch ,,erfüllt“ genannt werden, wenn es von großem Unglück überschattet war?

Und wenn es jemandem gelingt, sich ein ,,feines Leben“ zu machen, war es damit notwendig erfüllend? Worin liegt das Wesen der Erfüllung? Und kann ich dafür etwas tun, oder ist es eine Schicksalsfügung? Gibt es auch ein unerfülltes Leben? Etwa wenn jemand jung und ,,vor seiner Zeit“ sterben musste?

Oder kann auch ein langes Leben unerfüllt bleiben? Offenbar wollen wir auch das für möglich halten, denn die bedeutungsschwere Aussage, jemand habe ein erfülltes Leben gehabt, impliziert doch die Möglichkeit, dass es auch anders hätte ausgehen können.

Allerdings: Ist nicht der Individualismus schon genug ins Kraut geschossen? Sollte nicht, angesichts der horrenden Bedrohungslagen auf diesem Erdball, unser individueller Lebenslauf ein ganz zweitrangiges Thema werden?

Wenn das Ganze auf dem Spiel steht, sollten wir der Rettung dienen und unser individuelles Glück zurückstellen, oder? Gewiss, das sollten wir, jedenfalls wenn wir ,,Glück“ vor allem als etwas ansehen, was unser ganz persönliches Wohlsein betrifft.

Ein ,,erfülltes“ Leben wird sich aber als eines erweisen, das nicht nur das Ego und den lustvollen Genuss auf Erden zu steigern trachtet, sondern seine Würde und seine Erfülltheit auch dadurch gewinnen, dass es Aufgaben wahrnimmt, die dem Wohl des Ganzen dienen, von dem wir ein Teil sind.

Und als Individuum haben wir alle nur unser eines, einziges und einmaliges Leben. Dieses Leben ist es wert, als etwas Wertvolles, ja gewürdigt, ausgekostet, anerkannt zu werden.

Und wir leben nicht nur zum Wohle des Ganzen, sondern sind auch selbst Ganze, als Kinder einer Evolution, die Milliarden Jahre gebraucht hat, um uns hervorzubringen. Und wie unser rätselhaftes Gastspiel auf Erden verläuft und wie es ausgeht, das ist und bleibt ein großes Thema für jeden von uns.

Aus und für dich gelesen:

Erfülltes Leben: Ein kleines Modell für eine große Idee
Von Friedemann Schulz von Thun
© Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG,

  1. Auflage, München, 2021