Wissenschaft und Technik entwickeln sich rasant. Eigentlich sollte damit das Leben leichter werden. Doch das tut es nicht: Psychisches Unwohlfühlen befindet sich auf dem Vormarsch. Depression ist heute eine der häufigsten Ursache für Erwerbsunfähigkeit. In Deutschland leiden 15 Prozent der Erwachsenen an einer Angststörung. Wir scheinen uns psychisch nicht schnell genug an die neue Wirklichkeit anpassen zu können.

Und dann ist mir letzte Woche wieder einmal Steven Hayes Buch „Kurswechsel im Kopf“ in den Schoss gefallen. Er hat sich über 30 Jahre seines Forscherlebens der Frage gewidmet, wie wir der Tyrannei der Selbstoptimierung entkommen – und er hat die Akzeptanz- und Commitment-Therapie entwickelt.

Die Akzeptanz- und Commitment-Therapie (ACT, ausgesprochen als ein Wort wie das englische Verb „act“) ist eine Weiterentwicklung der Verhaltenstherapie. Nun, jetzt bin ich weder Therapeut noch Neurowissenschaftler und widme mich trotzdem diesem Thema. Überhaupt stehe ich mit dem Wort „Therapie“ auf Kriegsfuß. Warum?

Nun, weil Therapie immer meint, dass etwas mit einem nicht stimmt. Dabei ist es doch nur eine Seite, ein Teil, in einem selbst, in der sich ein Unterschied zwischen „Soll– und IST-Zustand“ zeigt. Und ACT ist für mich keine Therapie, sondern gesunder Menschenverstand und meines Erachtens beinahe spielerisch umsetzbar. Warnung: Der heutige Artikel ist etwas länger als sonst – deshalb gleich nachfolgend eine Zusammenfassung und die detaillierte Ausführungdann danach.

Zusammenfassung

Unsere Gedanken folgen meist eingefahrenen Bahnen. Schon eine einzige negative Beobachtung reicht aus, um eine bestimmte Folge von Gedanken auszulösen. Nach ACT gilt es, folgende sechs Veränderungen vorzunehmen:

  1. Wir wollen aufhören, unsere Gedanken als objektive Wirklichkeit zu betrachten.
  2. Wir wollen lernen, uns selbst aus der Warte eines neutralen Beobachters wahrzunehmen, und erkennen, dass wir mehr sind, als was wir uns über uns selbst erzählen.
  3. Wir wollen lernen, unsere Gefühle zu akzeptieren und uns auf sie einzulassen.
  4. Wir wollen lernen, in der Gegenwart präsent zu sein, statt uns von sinnlosen Grübeleien über Vergangenes oder Zukünftiges ablenken zu lassen.
  5. Wir wollen aufhören, uns von gesellschaftskonformen Werten leiten zu lassen, und stattdessen unseren eigenen Kompass entwickeln.
  6. Wir wollen Gewohnheiten entwickeln, die uns helfen, nach unseren eigenen Werten zu leben.

Akzeptanz- und Commitment-Therapie

„Menschen können leiden. Sie kämpfen mit schwierigen Gefühlen und Gedanken, mit quälenden Erinnerungen, mit unerwünschten Impulsen und Empfindungen. Ihre Gedanken kreisen um diese „Schmerzen“, sie fürchten sich davor, sie versuchen diese wegzuschieben und sie verbringen ihr Leben in Angst, dass sie wiederkommen.

Menschen zeigen aber auch enormen Mut, tiefes Mitgefühl und eine bemerkenswerte Fähigkeit, ihr Leben in die Hand zu nehmen – manchmal unter schwierigen persönlichen Voraussetzungen. Obwohl sie wissen, dass sie verletzt werden können, gehen sie das Wagnis der Liebe ein. Obwohl sie wissen, dass sie sterben werden, sorgen sie für die Zukunft. Obwohl sie scheitern können, kämpfen Menschen für ihre Ideale.“

Der menschliche Verstand versucht Probleme zu lösen, für die er nicht geschaffen ist.

Steven C. Hayes

Dieser Satz widerstrebt unserem intuitiven Verständnis, ist aber wissenschaftlich fundiert und beschreibt ziemlich genau häufige Ursachen für physischen Schmerz und Leid. Was steckt dahinter?

Ausgangspunkt ist die irritierende Beobachtung, dass negative Gefühle, quälende Gedanken und unerwünschte Verhalten umso schlimmer werden, je mehr wir versuchen, sie in den Griff zu bekommen. Wir wollen den Gedanken nicht denken. Doch umso mehr wir versuchen, ihn nicht zu denken, umso nachhaltiger fixiert er sich in unserem Gehirn. Bitte denke jetzt nicht an den berühmten rosaroten Elefanten.

Im Prinzip meditieren wir mehrmals täglich mit leidvollen Gedanken als Meditationsobjekt. Aus diesen Gedanken entstehen dann negative Gefühle als Hinweis darauf, dass das eine oder andere Bedürfnis nicht erfüllt wird. Zu versuchen, Gefühle zu unterdrücken, verstärkt sie.

Damit umzugehen ist so schwer für uns, weil wir von Kindheit auf gelernt haben, auftretende Probleme mit unserem Verstand zu analysieren, um sie dann logisch zu lösen. Grundsätzlich ist diese Strategie sinnvoll. Mit logischem, problemlösendem Denken beherrschen wir (mehr oder weniger) die Welt – haben wir doch Jahre nach der ersten Mondlandung (1969) sogar Rollen (1987) für die Koffer gesellschaftsfähig gemacht.

Dummerweise funktioniert es mit dieser Logik gerade bei unserem eigenen „seelischen“ Unwohlsein nicht immer so richtig. Umso mehr wir versuchen, dieses zu kontrollieren, umso mehr wird die Kontrolle selbst zum Problem.

Die destruktive Macht der Gedanken, Emotionen und Gefühle kann mit ACT und seinen 6 Schritten deutlich eingeschränkt werden.

1. Gewahrsein

Unser Verstand hat so seine Schwierigkeiten mit dem Augenblick der Achtsamkeit, insbesondere mit uns selbst. Was tut der Weise? Wenn er sitzt, dann sitzt er. Wenn er steht, dann steht er. Wenn er geht, dann geht er. Was tun wir (oder zumindest die meisten von uns)? Wenn wir sitzen, dann stehen wir schon. Wenn wir stehen, dann gehen wir schon. Und wenn wir gehen, dann sind wir schon am Ziel. Unser Verstand (Geist) ist immer in Bewegung und selten in der Gegenwart zu Hause. Er beschäftigt sich gerne mit dem, was war oder was sein wird.

Permanent versucht er, alles entweder in schlecht oder gut, nutzbringend oder gefährlich, angenehm oder unangenehm einzuteilen. Dabei besteht um uns herum eine Realität, wie sie wirklich ist, – und doch konstruieren wir uns unsere eigene Wirklichkeit in unseren Gedanken und erleben durch das, auf was wir unsere Aufmerksamkeit fokussieren.

Sind wir mit unseren Gedanken ständig woanders, bekommen wir viel zu wenig davon mit, was der gegenwärtige Moment, das Hier und Jetzt zu bieten hat. Wir beschäftigen uns mit Dingen, die wir nicht direkt beeinflussen können. Ja, es ist momentan saukalt. Gilt es halt, sich warm anzuziehen. Überlege, wie oft du in den letzten Tagen darauf hingewiesen wurdest, dass es kalt ist. Wir beschäftigen uns und tauschen uns aus über Dinge, die offensichtlich sind, sind unaufmerksam und verpassen damit viele Gelegenheiten für erfüllendes Erleben und dafür aus dem, was sich direkt vor uns abspielt, zu lernen. Achtsamkeit, Gewahrsein lässt sich trainieren, sowohl mit formalen Achtsamkeitsübungen als auch in jeder kleinen Handlung des Alltags. Und je mehr wir üben, umso mehr Kraft können wir daraus ziehen.

2. Wer bin ich?

Einfache Frage und doch nicht leicht zu beantworten. So und so alt, männlich/weiblich oder neuerdings neutral, mit dem Beruf, den Interessen, Stärken und Schwächen. Was immer wir beschreiben, sind nichts anderes als Attribute. Wenn ich zum Beispiel ein Verhalten oder eine Gewohnheit ändere, bin ich ja immer noch da. Ich meine das „Ich“. Wer oder was ist das?

Bin ich meine Gedanken oder gar für meine Gedanken verantwortlich? Wohl kaum, die kommen und gehen, und zwar etwa 6.200 „Gedankenwürme“ am Tag. Ich habe Gedanken, ich habe Gefühle, – aber ich bin nicht mein Gefühl. Ich bin morgen ich, aber nicht mit den gleichen Gefühlen.

Ich bin vielmehr die Bühne, auf der meine Gedanken, Gefühle und Emotionen, Dramen, TV-Serien, Komödien und Dokumentarfilme ablaufen – und ich kann sie beobachten, kann Zuschauer sein. Dieser Beobachter ist ein komischer Kauz. Er überschreitet Zeit und Raum, er ist alles oder nichts. Kein Wunder, sich ab und zu überwältigt zu fühlen: Wir sind Regisseur, Zuschauer, Bühnenausleuchter und Schauspieler in einem.

Jeder von uns hat viele (Vor-) Urteile über sich selbst, hat seine „Persönlichkeit“ im Kopf und festgelegt. Wir neigen dazu, andere – aber auch uns selbst – in Schubladen zu stecken. Etiketten, mit denen wir uns selbst erklären, – fleißig, schüchtern, unsportlich, schwierig, eigensinnig, nett usw. – sind manchmal ein Ruhekissen und manchmal ein Gefängnis. Wir ruhen uns aus, – lassen uns von ihnen hindern, Chancen wahrzunehmen und ein gutes, erfülltes Leben nach unseren Wertvorstellungen zu führen. Wer bist du?

3. Akzeptanz

Zunächst gilt es, ein Missverständnis auszuräumen. Akzeptanz meint nicht passives Erdulden, meint nicht, dass wir die Dinge hinnehmen müssen, weil wir sie sowieso nicht ändern können. Das Gegenteil ist gefragt: Sich selbst und seine Gefühle anzunehmen, die aufgrund von Gedanken in unserem Geist entstehen, sich in Emotionen darstellen und uns mitteilen, dass eines unserer Bedürfnisse momentan nicht befriedigt ist, ist die Grundvoraussetzung für jede Veränderung. Akzeptanz ist das Gegenteil von Vermeidung.

Da bedeutet, sich aktiv mit den Gegebenheiten auseinanderzusetzen. Nur wenn ich meine Verteidigungshaltung aufgebe und bereit bin, meine Ängste, Traurigkeit, Verzweiflung und sonstige „Seelenleiden“ vollständig zu spüren, sie zu akzeptieren,, eröffnet sich die Möglichkeit, über sie hinauszuwachsen und zu lernen.

Dies ist ein aktiver, kraftvoller und verantwortungsvoller Umgang mit sich selbst. Erfordert Mut und eröffnet neue Horizonte. Wir kennen den „Gelassenheitsspruch“, mit dem wir uns die Gelassenheit wünschen, anzunehmen, was wir nicht ändern können, die Kraft zu haben, zu ändern, was zu ändern ist und die Weisheit zu besitzen, das eine vom anderen zu unterscheiden . In manchen Situationen bietet sich die Fragestellung an, was ist mir momentan lieber: „heitere Gelassenheit oder gelassene Heiterkeit“?

4. Abstand zu den Gedanken

Die Macht der Gedanken kennt jeder. Denke an eine Zitrone und versuche gleichzeitig, Trompete zu spielen. Der Mund zieht sich zusammen, obwohl weit und breit keine reale Zitrone zu sehen ist. Wir haben gelernt, dass Zitronen sauer sind und erinnern uns daran, wie sauer, wenn wir an eine Zitrone denken.

Wir haben aber auch andere, weniger harmlose Dinge gelernt: „Ich muss perfekt sein.“ „Ich muss die Kontrolle behalten.“ „Das schaffe ich nie!“ „Ich bin nichts wert.“ Da zieht sich nicht der Mund, sondern das Gehirn, der Geist, zusammen.

Diese gedankenproduzierende Maschine, die jeder von uns besitzt, bietet uns auch Nützliches und hilft uns, mit unserer Umwelt zurechtzukommen. Aber manchmal sind die Gedanken absurd, einseitig, belanglos, unnütz, irrelevant, übertrieben oder schlichtweg falsch.

Würden wir dieser Maschine jeden Gedanken vorbehaltslos abkaufen und unser Handeln danach richten, dann kämen wir in Nullkommanichts in Teufels Küche. Warum? Weil unser Denken keineswegs immer so logisch und realistisch ist, wie wir es gerne hätten, sondern zum einen ein Resultat unserer „Programmierung“ durch unsere Lebensumstände ist und zum anderen Ergebnis unserer Fähigkeit, alles mit allem in Beziehung zu setzen. Wir können uns von den Gedanken lösen:

„Das glaube ich dir nicht.“ „Das kaufe ich dir nicht ab.“ „Na und?!“ – solches sagen wir manchmal zu anderen, wenn uns ihre Gedanken oder Argumente nicht sinnvoll erscheinen. Also, man darf sich auch selbst anmachen: „Ich höre, was du sagst, mein lieber Verstand und Geist, aber das glaube ich dir nicht. Das kaufe ich dir nicht ab. Na und?!“ – und dann könnte man sich fragen: „Wofür?“

5. Werte

Der schwierigste Teil, obwohl es uns am nächsten liegt. Meine Werte, was bedeutet das genau? Was will ich eigentlich? Was ist mir wichtig im Leben? Worauf kommt es mir an? Die Antworten auf diese Fragen sind manchmal nicht einfach zu finden, unter anderem auch deshalb, weil wir in einer Gesellschaft leben, die bestimmte Vorstellungen davon hat, welche Werte wir haben sollten. Und mitunter ist es harte Arbeit, herauszufinden, ob ein Wert denn tatsächlich mein persönlicher Wert ist oder ob er sich aus äußeren Einflüssen herauskristallisiert.

Ziele sind wichtig, – wir brauchen Ziele, um in Bewegung zu kommen. Aber genauso wichtig wie die Ziele ist es, eine Richtung zu haben. Unsere Werte geben uns die Richtung, aber sie können als Ziel nicht erreicht werden. Die Werte, die hinter unseren Zielen stehen, anderen Menschen nahe zu sein, einen Partner zu finden, Verantwortung zu übernehmen, ein liebevolles Gegenüber zu sein, selbst geliebt und anerkannt zu werden, – kann ich niemals in dem Sinne erreichen, dass ich sie für immer abhaken könnte.

Aber die Werte dienen als Leuchtturm, geben eine Richtung vor, auch dann, wenn die See rau und die (Aus-) Sicht schlecht ist – oder wie die Sterne am Himmel. Sie geben die Richtung an, in die ich mich bewegen will, und auch wenn ich ihnen nicht näherkomme, so sind sie doch der Maßstab meines Handelns. (Wenn du möchtest, findest du hier eine Liste von 346 Grundwerten, – da kannst du deine 8 wichtigsten auswählen.)

6. Commitment – Engagement

Es ist mir ernst. Wer sich keine Ziele setzt, fühlt früher oder später eine innere Unruhe. Wenn man nichts für sich Wichtiges findet, treibt man dahin; wenn man sich nicht festlegt, ist man wie ein Fähnchen im Wind. Natürlich können wir stolpern und hinfallen; natürlich werden wir auf Barrieren stoßen, die unüberwindlich erscheinen; und natürlich wird es Momente geben, in denen wir mutlos sind und Angst haben.

Es lohnt sich, sich immer wieder der Gefahr des Scheiterns auszusetzen. Denn was wir damit gewinnen, ist ein vitales, sinnerfülltes Leben mit Kraft und Freiheit. Und paradoxerweise wird unsere Kraft mit all den Anstrengungen und dem Aufwand nicht kleiner, sondern sie wächst und füllt uns aus. Gibt uns Erfüllung, – denn mein Leben ist das einzige, das ich habe.

Der Kampf mit dem Dämon:[1]

Du und der Dämon, jeder zieht an einem Seil und zwischen Euch ist der Abgrund.

Du weißt, Du kannst nicht gewinnen. So verzweifelt Du es versuchst, der Dämon ist stärker und zieht Dich näher an den Abgrund heran. Du bist verloren, gleich wirst Du stürzen.

Und Du ziehst und ziehst und ziehst …

Warum lässt Du das Seil nicht los und gehst Deinen Weg?

[1] Michael Waadt

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